Autor: Dilek Güngör

  • Durst-Pflicht in der Stadtwüste

    Der Gedanke, einfach so am Schreibtisch oder beim Gurkenschälen zu verdursten, bekümmerte mich früher wenig. Die ersten zwanzig Jahre meines Lebens scherte sich niemand darum, ob ich genug Wasser getrunken hatte oder nicht. Ich trank, wenn ich Durst hatte, und hatte ich keinen, lies ich es bleiben. Heute wage ich es nicht mehr, das Haus…

  • Gespräche aus der Unterwelt

    Eine Menge Stürze hat unser Telefon schon überlebt, den letzten nicht. Im Schrank habe ich tatsächlich noch mein altes Telefon gefunden. Damit habe ich nicht gerechnet, weil ich fast alles verschenkt habe, was doppelt war, nachdem mein Mann und ich zusammengezogen waren. Das Telefon braucht nur neue Batterien, schon geht es wieder. Es sieht aber…

  • Zweite Sprachspur

    In unserer Kindergartengruppe ist seit Kurzem ein kleines Mädchen aus Kasachstan. Ihre Mutter spricht und versteht noch wenig Deutsch, darum brachte sie zum letzten Elternabend ihren älteren Sohn als Dolmetscher mit. Als man uns Elternhinterher den neuen Turnraum zeigte, schob ich mich zu ihm durch und sagte, ich hätte früher auch oft für meine Eltern…

  • Guck mal, was ich kann

    Für eine Wand im Hauseingang meiner Elternwerde ich ein Bild malen. Die Nashörner, die dort hängen habe ich vor Jahren gemalt und schon als das Bild gerahmt an die Wand kam, dachte ich, richtig gut sind sie nicht geworden. Den Rahmen hatte mein Vater in seiner Werkstatt aus dünnen Leisten geleimt, die Ecken sind nicht…

  • Plötzlich Lust auf Weihachten

    Wir saßen um den Küchentisch meiner Freundin herum und aßen bei karger Beleuchtung die Kuchenreste des letzten Kindergeburtstags. Die beiden Lampen über dem Tisch hatten den Geist aufgegeben, selbst dem Heimwerker ihres Vertrauens war es nicht gelungen, sie zu reparieren, also zündeten wir Kerzen an. Die warfen ihr warmes Licht auf die weinroten Polster der…

  • Die Gefahr der Bananenschale

    Auf einer Bananenschale auszurutschen und sich dabei das Genick zu brechen, war die Gefahr meiner Kindheit. In der Schule, im Hort, in Kinderbüchern, immerzu wurden wir ermahnt, keine Bananenschalen auf die Straße zu werfen. Je älter wir wurden, desto seltener tauchte die gefährliche Bananenschale auf. Was niemanden verwunderte, denn abgesehen von Comicfiguren habe ich nie…

  • Von Schuhen und Liebe

    Mein Nachbar trägt teure, rahmengenähte Schuhe. Die hat er sich in Wien gekauft. Ich wusste, dass rahmengenähte Schuhe teuer sind, nicht aber, was rahmengenäht bedeutet. Nun weiß ich, dass die Sohle eines solchen Schuhes austauschbar ist. Das Oberteil und die Innensohle werden mit einem Lederband, das um den Schuh läuft, zusammengenäht. Dieses Band – der…

  • Träumerische Buchhaltung

    Meine Freundin führt seit Jahren, nein: seit Jahrzehnten ein Traumtagebuch. Neben ihrem Bett liegen stets ein Notizbuch, Filzstifte, Buntstifte, Bleistifte, Schere und Kleber. Manchmal schreibt sie auf, was sie in der Nacht gesehen hat, manchmal zeichnet sie ganze Szenen aus ihrem Traum, manchmal nur ein Bild, an das sie sich beim Aufwachen erinnern kann. Wenn…

  • Was Kinder anziehen

    Meine Tochter hat ein Paar glitzernde Riemchenpumps in rosa bekommen. Ich wusste vorher gar nicht, dass es Absatzschuhe in Größe 30 überhaupt gibt. Jetzt weiß ich, dass es sie sogar schon in Größe 27 gibt. Die hat sich mein Sohn ausgesucht. Schon im Laden wollte er sie nicht mehr ausziehen. Ich habe beiden Kindern je…

  • Vergebliche Warnungen

    Pass auf. Sei vorsichtig. Langsam. Nicht so schnell. Pass auf, du tust dir weh. Vorsicht. Nein. Halt dich fest. So ist gut. Langsam. Nicht so dolle. Wie oft am Tag hört ein Kind diese Worte? Hört es sie überhaupt? Spiel nicht mit der Steckdose, spiel nicht mit dem Messer, iss langsam, jetzt mach die Augen…